Neue Ideen für die Seniorenbetreuung

Neue Ideen für die Betreuungsarbeit

Betreuen ohne Beschämen

Senioren und Betreuende leiden unter Scham und Schamangst

Scham

Im Biografieblatt von Herrn Malchik* steht die Notiz: „Laut Aussage seiner Ehefrau singt er sehr gerne Volkslieder“. Aber wenn eine Mitarbeiterin des Betreuungsteams Herrn Malchik zum wöchentlichen Singkreis einlädt, kommt immer die gleiche Antwort: „Ach – heute nicht. Danke!“

Auch auf vielfaches Nachfragen möchte Herr Malchik keinen Grund für seine ablehnende Haltung nennen. Wenn man ihn mit Fragen zu diesem Thema bedrängt, wird er schnell sauer und verlangt laut, „in Ruhe gelassen“ zu werden.

Das Betreuungsteam rätselt über dieses Verhalten. Es scheint derzeit keine andere Möglichkeit zu geben, als Herrn Malchik in Einzelbetreuung in seinem Zimmer zu betreuen. Schon das Verlassen seines Zimmers verweigert er meistens, obwohl er noch gut gehfähig ist. Herr Malchik ist fast blind und hat das Augenlicht erst in den letzten Jahren eingebüßt. Er braucht Begleitung zu den Gruppenaktivitäten. Diese Begleitung wird ihm auch angeboten. Er lehnt aber immer ab.

Einem männlichen Betreuungsmitarbeiter vertraut er sich schließlich an: Er schämt sich, geführt werden zu müssen und hat große Befürchtungen, dass alle anderen Gruppenteilnehmer ihn dann anstarren würden (was er wiederum nicht mitbekommen würde). Der wahre Grund für seinen völligen Rückzug liegt also in Scham und Schamangst.

Es gibt Schwächen, Unfähigkeiten, Unzulänglichkeiten, die jeder Mensch gerne vor den Blicken und Kommentaren anderer Menschen schützen möchte. In diesem Sinne ist Scham ein sehr gesundes, hilfreiches Gefühl. Andererseits kann unverhältnismäßig große Scham auch dazu führen, dass man keine Freude am Leben mehr finden kann.

In der Pflege ist die Nacktheit und das Überschreiten von intimen Grenzen durch die Pflegepersonen im Vordergrund der Scham-Problematik. In der Betreuung sind die drei häufigsten Gründe für Scham und Rückzug:

  1. Inkontinenz

  2. Demenz

  3. körperliche Veränderungen (Lähmung, Zittern, Amputation, bei Frauen Haarausfall usw.)

Diese Probleme betreffen praktisch alle Bewohner von Pflegeheimen.

Beschämung

Scham und Beschämung sind wie zwei Schwestern, die häufig verwechselt werden. Scham muss der betroffene Mensch selbst überwinden. Beschämung geht als verletzendes Verhalten von anderen Menschen aus. Um beim oben genannten Beispiel zu bleiben: Herr Malchik schämt sich, weil er geführt werden muss. Er hat Angst, möglicherweise von Anderen deswegen beschämt zu werden. Wenn er aber seine Scham überwindet und in der Gruppe von allen anderen Teilnehmern freudig begrüßt wird, dann findet die gefürchtete Beschämung nicht statt. Ihm wird sich einprägen, dass er in dieser Gruppe angstfrei teilnehmen kann, weil er akzeptiert und respektiert wird.

Der Demenz-Experte Tom Kitwood stellte eine ganze Liste von Verhaltensweisen auf, durch die alte oder demente Menschen beschämt werden. (siehe Buchempfehlungen: Tom Kitwood: „Demenz“)

Besonders demente Menschen erleben ständig Herabwürdigung und Beschämung durch Verhaltensweisen wie …

Infantilisieren (wie ein Kind behandeln, wie mit einem Kleinkind sprechen - „Babytalk“)

Schimpfen und Anklagen („was hast du denn jetzt schon wieder gemacht!?“

Abwerten (jemandem sagen, er sei nutzlos, unfähig, wertlos, dumm)

Ignorieren (über jemandes Kopf hinweg sich unterhalten, als sei derjenige gar nicht da)

Entwerten (die subjektive Realität der Person nicht anerkennen, Aussagen als Unsinn bezeichnen)

Verbannen und Stigmatisieren („Ins Café kann ich dich nicht mitnehmen – du sabberst!“)

Diese Liste könnte man noch lange fortsetzen. Oft wird von betreuenden Personen einfach angenommen, dass eine demente Person, die ihren eigenen Namen nicht mehr kennt, auch nicht bemerkt, wenn man sie abwertend behandelt. Das Gegenteil ist aber der Fall!

Gerade demente Menschen in den ersten beiden Stadien der Alzheimer Demenz bemerken ihre zunehmende Vergesslichkeit und ihr Unvermögen. Dies suchen sie mit allen Mitteln zu verbergen, um nicht beschämt zu werden. (siehe Artikel „Phasen der Alzheimer-Demenz“)

Schamangst

Schamangst bedeutet die Angst davor, von Anderen beschämt zu werden. Die Angst, in Situationen zu  geraten, in denen man sich vor anderen Menschen (vor der Öffentlichkeit) blamiert. Die Angst vor Menschen, die unsensibel oder grob auf das Unvermögen eines Menschen reagieren („Was will denn der Krüppel da?“ oder „Die versteht ja sowieso nix – was hat die hier in der Gruppe zu suchen?“).

Gerade von Mitbewohnern und Besuchern geht sehr häufig Beschämung aus. Ein zufällig mitgehörter Satz, den eine Tochter zu ihrem dementen Vater im Pflegeheim sagte: „ ... Papa, das hab' ich Dir aber jetzt schon fünfzig mal erklärt! Kapierst du es denn nicht?“ Solche Sätze tun weh.

Aber auch Betreuungkräfte sind mal gestresst und finden nicht den richtigen Ton.  

Unter diesen Umständen ist es sehr verständlich, wenn Menschen sich zurückziehen in ihren ganz privaten Bereich, wo sie sich sicher fühlen vor solch schmerzhaften Beschämungen.

Wenn Menschen andauernd beschämt werden, kann dies zu Depressionen, Angststörungen und sogar Selbstverletzungen führen.

Was können wir tun?

Ein Satz wie „Sie brauchen sich doch nicht zu schämen!“ ist zwar gut gemeint, bewirkt aber meistens gar nichts. Hilfreich könnte sein:

► Informationen geben über die geplante Aktivität und die Gruppenteilnehmer. („Das ist eine sehr nette Truppe“/ „Es gibt außer Ihnen noch drei weitere Teilnehmer, die sehr schlecht sehen können“)

► Scham möchte Sicherheit und Rückzugsmöglichkeit. Hilfsangebote könnten sein: „Ich gehe mit in die Gruppe und bleibe an Ihrer Seite. Wenn sie vorzeitig gehen wollen, brauchen Sie mir nur ein kleines Zeichen geben, dann begleite ich Sie zurück zu Ihrem Zimmer.“

► In Gruppen mit dementen Teilnehmern unbedingt darauf achten, dass diese nicht bloßgestellt werden. Wenn z.B. bei der Vorstellungsrunde eine Teilnehmerin an der Reihe wäre, die aber ihren Namen nicht mehr erinnern kann, dann können Sie das auffangen, indem Sie humorvoll sagen: „Na, die Frau Wright braucht sich ja nicht mehr vorstellen – wir kennen sie ja alle!“ Oder sie sagen: „Frau Wright, jetzt sind Sie an der Reihe!“

► Wenn es in Gruppen immer wieder zu Aussagen kommt, die einen Teilnehmer beschämen, dann sprechen Sie unter vier Augen mit dem „Beschämer“. Ändert dieser sein Verhalten nicht, müssen Sie evtl. den Beschämer von den Gruppen fernhalten, nicht den Beschämten.

Beschämung löst negativen Stress aus. Dieser wiederum bewirkt auf Dauer eine Verschlechterung einer Demenz. Wir sehen ganz klar, dass es eine der vorrangigen Aufgaben von Betreuungskräften ist, für ein Umfeld ohne Beschämung zu sorgen. Gehen Sie mit höchstem Respekt, mit Höflichkeit und auf Augenhöhe mit den Ihnen anvertrauten Senioren um. Schützen Sie „schwache“ Heimbewohner vor den Schimpfern und Beschämern!

Auch Betreuende erleben Scham

Auch Mitarbeiterinnnen der Betreuung erleben sehr häufig Situationen, die mit Scham behaftet sind. Schwer demente Menschen neigen z.B. manchmal dazu, sich auszuziehen. Männliche Bewohner mit und ohne Demenz respektieren die Grenzen der Mitarbeiterinnnen nicht und belästigen sie durch Berührungen oder anzügliche Bemerkungen. Dies soll in einem weiteren Artikel ausführlicher beleuchtet werden. Hier nur in aller Kürze: Sexuelle Belästigungen sollten Sie immer bei einer Vorgesetzten oder im Team ansprechen. Behalten Sie das nicht für sich!

Volker Gehlert, Dementia Care Manager (DCM)


Hinweis: Den Ratgeber "Scham in der Pflege" können Sie zum Nachlesen oder Weitergeben kostenlos bestellen bei https://www.zqp.de/scham-pflege/

Quellen / Lese-Empfehlungen:

1) Stephan Marks & Jochen Leucht:

Rundbrief des Internationalen Fördervereins

Basale Stimulation® e.V., Ausgabe 24, Stand 06.02.2011

2) Scham -Praxistipps für den Pflegealltag, ZQP-Ratgeber,

Zentrum für Qualität in der Pflege, 10117 Berlin,

Auflage 2019, ISBN 978-3-945508-19-0

3) Aspekte der Scham in der therapeutischen

Arbeit mit suchtkranken Menschen

Master Thesis zur Erlangung des akademischen Grades Master

of Science (Psychotherapie) im Universitätslehrgang

Psychotherapie Fachspezifikum Integrative Gestalttherapie

von Mag. Kathrin Grechenig Department für Psychotherapie

und Biopsychosoziale Gesundheit an der

Donau-Universität Krems Wien, am 18. 01. 2012

Download am 16.05.2020, 11.25 Uhr von Seite:

http://www.gestalttherapie.at/graduierungsarbeiten_oeffentlich/mth_kathrin_grechenig.pdf

4) gehaltvoll – Das christlich-psychologische eMagazin

Ausgabe 5.1/2018

Download am 16.05.2020, 11.57 Uhr von

https://www.gehaltvoll-magazin.de/sites/default/files/imce/5.1%20Endfassung.pdf

5) Alsdorf, Friedemann: Auswege aus dem Scham-Angst-Zyklus

IGNIS-Akademie Kitzingen, 2017

Download am 16.05.2020, 12.02 Uhr von:

https://www.ignis.de/wp-content/uploads/2018/12/Scham-Angst-Zyklus-kurz.pdf

6) Charf, Dami: Wie Scham entsteht

Artikel auf Homepage

https://traumaheilung.de/wie-scham-entsteht/

Download vom 16.05.2020, 11.18 Uhr

7) Prof. Dr. Ursula Immenschuh

Professorin für Pflegepädagogik und Pflegewissenschaft:

Würdevoll mit Schamgefühlen umgehen

erschienen in BibliomedPflege, 2016

Download am 16.05.2020, 12.09 Uhr von

https://www.bibliomed-pflege.de/sp/artikel/23992-wuerdevoll-mit-schamgefuehlen-umgehen

8) Udo Baer, Gabriele Frick-Baer

Das ABC der Gefühle

Beltz Verlag, Weinheim, 2008