Neue Ideen für die Seniorenbetreuung

Neue Ideen für die Betreuungsarbeit

Der Wunsch nach Berührung

Am Anfang des Lebens und am Ende auch

Autorin: Annette Berggötz

Gerade im Alter ist „Berührt-zu-werden“ ein wichtiges Bindeglied zum Leben. Und ebenso wie Musik hören oder das Schnuppern an Gartenkräutern kann eine achtsame Berührung als Brücke genutzt werden. Achtsam klärt sie Fragen wie: Wo darf berührt werden, an Händen, Armen, Kopf? Wie lange darf berührt werden? Womit darf berührt werden, mit Öl oder Lotion? Wie darf berührt werden, in weicher oder fester Streichung? Und so ist eine Berührung immer eine ganz besondere Begegnung im Austausch mit dem Gegenüber. Hier wird nicht am Menschen berührt, sondern mit ihm.

Die alte Dame von nebenan, seit Jahren ist sie verwitwet und lebt allein. Die Erinnerung an ihre Ehe erfüllt sie noch nachhaltig mit Wehmut und Dankbarkeit. Sie vermisst ihren Mann, seine Gegenwart, die zahlreichen Gespräche. Aber ganz besonders vermisst sie seine Nähe, seine Berührungen. Dieser Wunsch ist tief in ihr verborgen und diese Sehnsucht ist mit den Jahren stärker geworden. Darüber, so meint sie, kann man doch mit kaum jemand sprechen. Das ist ja schon was sehr Intimes. Die wöchentlichen Besuche im Haarsalon genießt sie deshalb ganz besonders. Dort wird man so schön umhegt und gepflegt. Das minutenlange Waschen und das damit verbundene Berühren ist ein Genuss für sie.

Im Gespräch mit meiner Friseurin erfahre ich, dass diese Altersgruppe ein ganz wichtiger Kundenstamm ist. Sie gehören zu den Treuesten und kommen jede Woche ganz regelmäßig. Beim Waschen/Föhnen oder Waschen / Legen hört die Fachfrau für Haarpflege und Styling hier manchen zufriedenen und entspannten Seufzer, während sie die Kopfhaut massiert.

Berührung – nein danke!

In Begegnungsstätten großer Städte haben Alleinstehende die Möglichkeit zusammenzukommen. Dort kennt man sich. Zärtlichkeit ist aber ein Tabu. Körperkontakte wie Umarmung sind eher seltener. Dennoch, es gibt Einzelne, die Bekanntschaften, ja Freundschaften pflegen und sich schon mal freudig in den Arm nehmen. Andere sind eher verhalten. Schon allein der Begriff „Berührung“ oder die Einladung zu einer Handmassage löst bei ihnen inneren Widerstand aus. Da kommen eigene Erfahrungen und Bewertungen ins Spiel. „Ich hab es mit den Berührungen nicht so sehr, das ist mir zu nah!“  So zieht sich eine rüstige 78-jährige sichtbar zurück. Alle tragen wir unsere Berührungsgeschichten in uns, die wohltuenden und die schmerzhaften. Durch Berührungen können Erinnerungen geweckt werden, die nicht immer schön waren. Wie viele Menschen, meist sind es Frauen, tragen qualvolle Erinnerungen der Vergewaltigung mit sich. Mühsam verdrängt, kommen diese im Alter, gerade auch durch die Demenzerkrankung, wieder zutage.

Das Festhalten bei Untersuchungen kann daher schon eine bedrohliche Berührungserinnerung auslösen, den Menschen völlig verunsichern und zu heftigem Widerstand führen. Solche Erfahrungen haben scharfe Spuren hinterlassen im Körper und in der Seele. Berührungen sind für Menschen, die diese Erfahrungen machen mussten, zunächst einmal negativ besetzt.

… oder doch?

Und doch ist da in ihnen ganz tief drinnen diese Sehnsucht. Eine Alltagsbegleiterin in einem Seniorenwohnheim berichtete mir folgendes: „Als ich die Materialien für meine Gruppenbeschäftigung aufräumen wollte, saß eine Bewohnerin, die nie an Aktivitäten teilgenommen und bisher alle Angebote abgelehnt hatte, im Aufenthaltsraum. Ich blieb bei ihr stehen und erklärte ihr, dass ich den anderen Bewohnern die Hand massiert hatte. Ich fragte sie, ob ich ihr auch eine Hand massieren dürfte. Sie schaute sich suchend um, stellte fest, dass wir allein waren, und gab mir ihre Zustimmung.

Für diese Frau war es offensichtlich ganz wichtig, in welchem Umfeld sie sich befand. Unter dieser Bedingung konnte sie diese berührende Zuwendung richtig genießen. Ich habe beim Massieren einige der Infos, die sie mir vorher über sich erzählt hatte, eingebracht, wie: Was diese Hände schon alles gearbeitet haben?! Dann habe ich jeden Finger benannt und massiert. Sie war zuerst sehr erstaunt, dann wurde sie immer entspannter und hat die Massage sichtlich genossen. Am Ende wollte sie beide Hände massiert bekommen.“

Ein Klinikseelsorger berichtet: „Manche Menschen werden es nicht zeigen oder aussprechen, trotzdem fehlt ihnen eine wohltuende, ja vielleicht zärtliche Berührung.“ Er hatte mal eine Predigt gehalten über die Haut und wie Jesus Menschen berührt. Danach sagte ihm eine Dame: „Und meinen Sie, dass das bei uns schon vorbei ist mit dem Wunsch nach Berührungen und auch mit Erotik?“ Das hat ihn tief bewegt, denn es war eine Aussage von einer Frau, die ganz selten mal über dieses Thema gesprochen hat. Schon in den Psalmen der Bibel heißt es: Du salbest mein Haupt mit Öl. Gott berührt nicht nur unsere Seele, sondern er berührt auch unser Ganzes.

Zurückhaltende Kultur

Bei uns im Norden von Europa ist man eher sparsam mit Körperkontakten. Wir geben uns die Hand. Aber schon allein, wenn wir die Hand ein bisschen länger festhalten, erleben es manche als ein wenig merkwürdig, als unangenehm. Im Vergleich zu Südeuropa haben wir hier eher eine berührungsfeindliche Kultur. Auch in Frankreich oder Polen kennen die Menschen das „Küsschen rechts, Küsschen links“, das ist ein Ritus, der ist nicht übergriffig, aber er ist ein wichtiger Moment der Berührung.

Eines steht fest: Einsamkeit ist das Thema Nummer Eins im Alter. Das belegen auch die Statistiken der Telefonseelsorge. Im Grunde ist es die Sehnsucht danach: Da ist jemand, der mich sieht in meiner Situation, der mich wahrnimmt. Da kann ich mich selbst wieder wahrnehmen und spüren. Ja, da beginnt schon die Berührung. Es ist ein Trugschluss, dass allein das Essen oder das Warmgehalten werden schon genügt. Satt und sauber ist eben nicht alles. Das wissen die Altenpflege und Altenhilfe. Viele der Pflegenden geben schon ganz viel, da es ihnen selbst ein Bedürfnis ist. Sie erleben den Zeitmangel und die Arbeitsbelastung als Bedrohung, die ihnen die Möglichkeit nimmt, sich Zeit für Zuwendung und Berührung zu nehmen.

Wo fängt gutes Berühren an?

„Zeit für Nähe, Raum für Distanz“. Dafür steht das Konzept respectare®. Der Name ist schon Programm, denn es geht um Respekt und um Wertschätzung. Gerade in der Pflegebeziehung sind besondere Herausforderungen an Pflegende wie auch an den Klienten/Bewohner/ Patienten gestellt. Zuvor noch rüstig, selbstbestimmt und eigenverantwortlich, ist der Einzelne durch Krankheit und/oder Altersschwäche in eine Abhängigkeit geraten. Das ist schwer zu ertragen. Mancher reagiert hier mit großer Angst und Verunsicherung.

Andere werden eher aggressiv und lehnen alle Hilfe, ja auch Berührung, ab. Wie kann eine Pflegebeziehung im Kontakt mit Menschen, die an Demenz erkrankt sind, achtsam gestaltet werden? Hier hätte man gerne einen Koffer mit Handwerkzeug. Doch wichtiger als jede Technik ist die Haltung, die Einstellung dem Menschen gegenüber. Es geht hier um ein verstehendes Mitfühlen, eine Haltung des Einfühlens. Es gilt, das Erleben der demenzerkrankten Menschen zu würdigen. Sie sollen nicht durch ihre Krankheit definiert werden. Sie sind vor allem Menschen mit einem Herz, das fühlt und begegnet.Denn das Herz wird nicht dement (Udo Baer)!  - (siehe Buchempfehlungen!) -

Der Mensch mit seiner Erkrankung, besonders mit der Demenzerkrankung hat sich verändert. Für Angehörige ist das oft ein schmerzhafter Abschied vom Bild der Mutter oder des Vaters. Seine Abhängigkeit wird immer größer. Sich auch noch von seinen Kindern helfen zu lassen, macht ihm große Probleme.

Als Pflegende oder Betreuende dies zu erkennen, ist ein ganz wichtiger erster Schritt in der Begegnung. Aus dieser Sicht erklärt sich auch manches Verhalten alter Menschen, die zwar gewaschen oder auf Toilette begleitet werden möchten, sich jedoch dagegen wehren, dass dies jeder tun darf.

Eine Frage der Haltung und des Umgangs

Bei respectare® geht es genau um diese Haltungsarbeit, um Vermitteln von Geborgenheit, um Präsenz. Der alt gewordene Mensch sucht genau diese Präsenz: Ernst genommen zu werden, wertgeschätzt zu werden, wahrgenommen zu werden. Es geht um die Gesamtsicht auf den Menschen, um seine Biografie, seine Persönlichkeit.

Wertschätzung und Respekt drücken sich ganz praktisch durch die gestellte Erlaubnisfrage aus: „Darf ich Sie jetzt waschen? Ist es Ihnen recht, wenn wir jetzt beginnen?“ Die Frage ist hierbei keine Floskel. Sie ist vielmehr als ein Schlüssel zu verstehen, der in die Hand des Betroffenen gelegt wird. Dieser hat das Recht, Nähe zuzulassen oder sich zu verschließen. Kommt ein Nein, dann ist dieses ernst zu nehmen. Denn Berührung braucht Erlaubnis. Und ganz ehrlich: Den anderen sein zu lassen, das ist der größte Ausdruck des Respekts, auch wenn ich es im Moment nicht verstehen kann.

Ist ein Patient gar nicht in der Lage aufgrund seiner Bewusstseinssituation zu reagieren, so informiere ich, was ich jetzt vorhabe. Dabei achte ich auf seine Reaktionen, auf das Zucken der Haut, auf die Spannung der Muskulatur, auf alle Veränderungen, die ich wahrnehme, und ich reagiere darauf. Nähe ist immer eine Vertrauenssache und somit als ein Geschenk zu sehen. Das sanfte Streichen vermittelt den Patienten wieder intensive Berührungsreize durch respektvolle, ritualisierte Berührung. Das respektvolle Umgehen stärkt die Lebensfreude und unterstützt dazu noch den Heilungsprozess.

Krankenschwestern berichten, dass auch sie davon profitieren. Es sei nicht nur positiv für den Patienten, sondern sie bekommen als Schwester auch sehr viel zurück. Durch dieses Wohlgefühl beim Patienten erleben sie selbst eine Wertschätzung ihrer Arbeit. Da macht die Arbeit einfach wieder Freude.

Rituale geben Sicherheit

Am Respectare-Kompetenzzentrum in Lutherstadt- Wittenberg, in Karlsruhe und vielen anderen Städten wird Teilnehmenden vermittelt, worauf es ankommt. Eingeladen sind Pflegende und Therapeuten sowie Mitarbeiter in der Alltagsbegleitung und Demenzbegleitung. Sie erleben in den Seminaren einen Perspektivenwechsel, indem sie selbst berührt werden. Sie alle sammeln Erfahrungen, wie sich einzelne Berührungen tatsächlich anfühlen. Hier bekommen sie eine Chance, ihr Tun zu reflektieren.

Das Credo heißt: „Ich muss erst einmal selbst erspüren, wie sich die Berührungen anfühlen, bevor ich sie weitergebe“. Eingeübt werden Berührungsabläufe, die immer im Ritual ablaufen, immer nach dem gleichen Schema. Die Abläufe können sich einprägen, sodass jede Pflegekraft an ihrem jeweiligen Arbeitsplatz das Gleiche ausübt. Ein Wiedererkennungswert ist somit für den Einzelnen, Ausführenden wie auch Berührten, hergestellt. Bei einer Berührung, die ich kenne, kann ich schon besser entspannen und mich darauf einlassen. Das Ritual orientiert mich, gibt mir Sicherheit, denn ich weiß, dass es mir guttut.

Am Anfang des Lebens und am Ende auch

Diese Streichberührungen sind meist auf eine entspannende Wirkung hin angelegt, können aber auch anregend wirken. Regelmäßiges Massieren stärkt die Körperwahrnehmung, senkt das Schmerzempfinden und fördert sogar die Gedächtnisleistung. „Denn die Haut bildet die direkteste Verbindung zu unserem Nervensystem und damit zu unserem Befinden.“ So erklärt es Martin Grunwald, der Leiter des europaweit einmaligen Haptik-Labors in Leipzig. Beim sanften Berührt-Werden produziert der Körper ein Wohlfühlhormon, das sogenannte Oxytocin. Das reguliert den Stoffwechsel, der Stresspegel sinkt und sogar Ängste schwinden. Positive Berührungsreize machen uns aber nicht nur ausgeglichener. Auch unser Gehirn funktioniert dadurch besser. Grunwald führt weiter aus: „Ein Gehirn reift einerseits nur, wenn es Berührungsreize erfährt, aber es kann auch nur gesund weiterarbeiten, wenn es entsprechende Stimuli durch die Umwelt erfährt. Insofern sind wir auf menschliche Berührungen extrem angewiesen in der frühen Kindheit, aber auch unser ganzes Leben lang.“

Ein schönes Beispiel: Eine Patientin, die schon neun Tage auf der Geriatrie liegt, leidet unter Rheuma und starken Schmerzen. Sie ist von dem intensiven Berühren der respectare-Streichberührungen begeistert. Sie sagt: „Die ganzen Schmerzen sind wie weggeblasen. Da bin ich gefragt, da stehe ich im Mittelpunkt. Es ist einfach schön.“

Autorin: Annette Berggötz (alle Rechte bei der Autorin)



Annette Berggötz ist Lehrerin für

Pflege und Gesundheitsberufe,

Begründerin von Konzept respectare®,

Dialogprozessbegleiterin (zertifiziert),

Work-Life-Balance-Beraterin (zertif.-Fachverband

Psychotherapie und Beratung GwG e.V.),

Gesundheitsbegleiterin für Lebendige Aromakunde®

und Autorin: Kinder respektvoll berühren,

Infantastic Verlag, ISBN 978-3-00-020838-6.


respectare – ein Konzept zur Förderung

respektvoller Haltung in Pflege und Therapie

In Altenheimen und in der Geriatrie kommt dem Pflegepersonal eine besondere Rolle zu. Denn Therapeuten, Pfleger/innen und Alltagsbetreuer/innen sind oft die einzigen, die Senioren berühren. Leider fehlt hier oft die Zeit für den intensiven Kontakt mit dem Patienten. Die Folge ist, dass lebenswichtige Reize fehlen und die Lebensqualität abnimmt. Das möchte ich, Annette Berggötz, als Konzeptentwicklerin von respectare ändern. Um Pfleger/innen und Therapeuten für die Bedeutung des Berührens zu sensibilisieren, habe ich respectare entwickelt. Das Konzept stellt das Berühren mit Respekt in den Mittelpunkt. Denn die Berührung in der Pflege ist ein heikles Thema. Hier kommen unterschiedliche Verständnisse von Nähe und Distanz ins Spiel. Trotz des engen Zeitplans im Arbeitsalltag sollen die Pflegenden lernen, achtsam mit sich und dem Patienten umzugehen. Weitere Infos unter www.respectare.de