Surfen mit Senioren
Die hochbetagte Frau Markert* staunt: „Ja – das ist das Backhaus, wo ich früher immer mein Brot gebacken hab! Das ist gleich um die Ecke vom Schultheiss!“ Frau Markert befindet sich in einem fortgeschrittenen Stadium der Demenz und hat seit Monaten sehr große Wortfindungsstörungen. Selten sagt sie mehr als ein „Ja“ oder „Nein“ oder vielleicht einmal ein einzelnes anderes Wort. Nun spricht sie unvermittelt in ganzen, langen, sinnvollen Sätzen! Mit großen Augen betrachtet Frau Markert das Foto auf dem Laptop, das ein Gebäude aus ihrem Heimatdorf zeigt. Frau Markert stammt aus einem sehr kleinen, sehr abgelegenen Dorf im Odenwald. Dort hat sie den Großteil ihres Lebens verbracht. Wir blicken gemeinsam auf den Bildschirm und ich stelle ein paar einfache Fragen über das Brotbacken und ihr Dorf. Auch darauf antwortet sie in ganzen Sätzen – manchmal etwas verdrehte Sätze, aber verstehbar. Ich staune über die schlummernden Fähigkeiten, die noch in Frau Markert stecken!
Als Vorbereitung für unser Surfen in der Erinnerung habe ich einige große Fotos aus dem Internet geholt, die ihr Heimatdorf zeigen. Viel ist nicht zu finden, aber es reicht, um Frau Markerts Erinnerung anzuregen.
Manche würden das, was Frau Markert und ich in diesen Momenten machen, belächeln und nicht einmal als echtes „surfen“ betrachten, denn aus bestimmten Gründen bin ich sozusagen schon mal „vorgesurft“. Dazu aber später noch mehr.
Das Thema Internet, surfen, mailen und skypen ist durch die Corona-Situation mit Besuchsverboten und Ausfall von Gruppenaktivitäten in Seniorenheimen sehr aktuell geworden. Wir sind jetzt alle viel mehr online. Warum nicht auch Senioren mit und ohne Demenz? Dazu will ich hier ein paar Gedanken und Tipps weitergeben.
Gute Vorbereitung ist die „halbe Miete“
Frau Markert, von der ich erzählte, ist aufgrund ihrer Demenz gerade in einer sehr unruhigen Phase, Sie läuft sehr viele Stunden des Tages umher. Sie hat kaum „Sitzfleisch“. Das macht es besonders wichtig, die Erinnerungs-Aktivität gut vorzubereiten, denn wenn es etwas länger dauert, bis ein Bild gefunden wird oder ein Video hochgeladen ist, dann steht Frau Markert auf und macht sich auf ihren Weg.
Eine gute Nachbereitung ist übrigens schon die beste Vorbereitung für den nächsten Betreuungseinsatz. Wenn Sie Fotos oder Internet-Links in einer für jeden Bewohner gesonderten Datei speichern, dann finden Sie das Material, das den Bewohner am meisten anspricht, beim nächsten Einsatz gleich wieder.
Für passende Umgebung sorgen
Damit sich der alte Mensch wirklich auf die Bilder auf dem Monitor des Laptops oder Tablets konzentrieren können, sollten sie für eine ruhige und ungestörte Umgebung sorgen. Stellen Sie den Bildschirm möglichst hell ein (das geht meist mit einem Rechtsklick auf den freien Startbildschirm – so kommen Sie in das Einstellungsmenü). Besitzt der alte Mensch eine Lesebrille, dann sollte er sie jetzt tragen. Eventuell müssen Sie den Raum etwas verdunkeln, damit der Monitor nicht spiegelt.
Selbstbestimmung fördern
Soweit es der geistige Zustand des Bewohners zulässt, fragen Sie nach den Bedürfnissen und lassen den Bewohner selbst bestimmen, ob er lieber eine Mail an jemanden schreiben möchte oder Fotos anschauen oder Musikvideos ansehen möchte. Bindung, Trost und Identität sind ein paar der psychischen Grundbedürfnisse jedes Menschen. Eingeschränkte Besuchsregeln erschweren die Bindung zum Ehepartner oder zu den Kindern und Verwandten. Dies belastet den alten Meschen. In dieser Situation wird er es sehr hoch schätzen, einmal mit den Verwandten per Skype sprechen zu können. Menschen denen aufgrund fortschreitender Demenz ihre Identität abhanden kommt, werden eventuell durch ein Volkslied oder ein Youtube-Video aus ihrer Heimat zu mehr Wohlbefinden gelangen.
Aus virtuellen Fundstücken mehr machen
Haben Sie eine schöne Dorfansicht des Heimatdorfs ihres Bewohners gefunden, von der er ganz begeistert ist? Dann bieten Sie ihm an, das Foto auszudrucken. Der Ausdruck kann dann an die Wand oder die Zimmertür gehängt werden. Vielleicht sogar mit Rahmen. Der Ausdruck könnte auch gleich eine Gelegenheit geben für den nächsten Betreuungsbesuch: Sie könnten dann beispielsweise mit dem Bewohner zusammen ein individuelles Türschild basteln und aufhängen. Nebeneffekt: So können Bewohner und Besucher die richtige Zimmertür besser finden.
Langsam surfen!
Ein Wort an die jüngeren Kolleginnen: Atmen Sie durch und schalten Sie bewusst zwei Gänge runter, bevor Sie mit alten Menschen ins Internet gehen. Ich beobachte das bei meiner Tochter: Je jünger ein Mensch ist, umso schneller geht er mit digitalen Geräten um. Bei dieser Schnelligkeit wird sogar mir manchmal schwindlig. Wie geht es da erst den 90-Jährigen? Also: Immer langsam!
In die alte Heimat „reisen“
Ob es ein kleines Odenwalddorf ist oder ein winziges Nest in Sizilien:
Alles findet sich im Internet. In Deutschland ist Google Street View nicht verfügbar, aber in den meisten anderen Ländern schon. So konnte ich schon mit einer Bewohnerin virtuell durch die Gassen ihres sizilianischen Heimatdorfs gehen. Sie konnte mir erzählen, wie das Leben dort in ihrer Jugend war und was sich im Dorf verändert hat. Ihre Lebensgeschichte wurde wieder lebendig und ihre Identität dadurch gestärkt.
Surfen auf der Schlagerwelle
Speziell für eine andere Bewohnerin, die ebenfalls viel im Haus umherwanderte habe ich die Links zu einigen Youtube-Videos mit Freddy Quinn auf meinem Dienstlaptop gespeichert. Da es sehr schwierig ist, die Dame zum Innehalten zu bringen, nutze ich jede Gelegenheit, wenn Sie bei einem ihrer „Rundgänge“ neugierig den Kopf zu meiner Bürotür hereinsteckt. „Hallo Frau Mertens*!“ begrüße ich sie freudig und sie entgegnet mein Lächeln. „Sind Sie nicht großer Fan von Freddy Quinn?“ - „Oh – ja!“ „Schauen Sie mal, was ich da gefunden habe“ lasse ich das erste youtube-Video laufen. Begeistert steht Frau Mertens nun vor dem Bilschirm und hört selig der Musik zu. (Zum Hinsetzen hat sie „keine Zeit“). Manchmal fängt Sie an, das Lied mitzusingen und ich stimme dann auch ein. Nach zwei bis drei solcher Lieder sagt Frau Mertens: „Es war sehr schön, vielen Dank! - Aber ich muss jetzt wieder weiter.“
Musikbiografie der Bewohner erstellen
Wenn Sie die Musikbiografie ihres Bewohners kennen (das heißt, die Musik, die ihn – besonders zwischen dem 15. und 25. Lebensjahr geprägt hat) dann bietet das Internet unzählige Möglichkeiten. Gerade Bewohner mit Migrationshintergrund können davon sehr profitieren. Auch wenn wir selbst kein italienisches oder mazedonisches Volkslied kennen – youtube kennt eines.
Tipp: Die kleinen Lautsprecher von Laptops und Tablets klingen oft ziemlich blechern und leise. Ein kleiner handlicher Bluetooth-Lautsprecher ist da sehr hilfreich. Er klingt viel besser und schwerhörige Menschen können den kleinen Lautsprecher selbst so nah an ihr Ohr halten, wie sie es benötigen. Kopfhörer sind aus hygienischen Gründen keine so gute Option – außer wenn jeder Bewohner seinen eigenen hat.
Beziehen Sie Angehörige mit ein!
Oft sind Enkel und Urenkel unsicher im Umgang mit den pflegebedürftigen hochaltrigen Verwandten. Beziehen Sie die junge Generation mit ein. Bitten Sie die jungen Verwandten, Ihnen eine Liste mit digitalen Kontaktmöglichkeiten zu erstellen. Email- und Skype-Verbindungen der nahen Verwandten oder Bekannten könnten zusammengestellt werden und die Arbeit erleichtern. Aber auch Homepages von Vereinen oder Firmen, mit denen der Bewohner früher in Kontakt war, sind eine Bereicherung. Sie müssen nicht alle Recherchen selbst machen. Junge Angehörige sind froh über eine konkrete Aufgabe und tun sich meistens sehr leicht damit.
Die psychischen Grundbedürfnisse
Achten Sie in Corona-Zeiten wie auch zu allen anderen Zeiten darauf, dass die fünf psychischen Grundbedürfnisse ihrer Bewohner ausreichend erfüllt werden: Trost, Bindung, Beschäftigung, Identität und Einbeziehung.
Das viruelle „Reisen“ in das Heimatdorf kann die Identität stärken und es kann möglicherweise Trost schenken, wenn der alte Mensch spürt, dass sich jemand für seine Lebensgeschichte interessiert. Die Kontaktaufnahme mit Angehörigen per email oder Skype kann für mehr Bindung und Einbeziehung sorgen.
Das Internet ist kein Ersatz für analoge Erfahrungen. Richtig eingesetzt kann es aber doch Freude in den Alltag der Senioren bringen und Wohlbefinden fördern.
* Namen geändert